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Warum Deutschland keinen linken Patriotismus braucht

Menschen aus den Krisengebieten träumen von einer Zukunft in Deutschland. Die internationale Presse schreibt über die deutsche „Willkommenskultur“. Einen Grund zum Patriotismus gibt es aber nicht.

Das Schiff machte einen kurzen Ruck, als Tugay mir sagte, da wo er herkomme, bekämen Neugeborene jetzt vermehrt den Vornamen „Angela“. Dort, wo Tugay herkommt, aus dem kurdischen autonomen Gebiet im Irak, sei man der deutschen Bundeskanzlerin sehr dankbar.

Der Smalltalk mit Tugay fand auf einer Fähre in Istanbul statt. Ein dunkelblau gefärbtes, voll beladenes Schiff bringt Touristen aus der tobenden Metropole auf kleine ruhige Inseln aus der Stadt, den Prinzeninseln. Mit dem Kurden kam ich ins Gespräch, als er mir sein Feuerzeug anbot. Nachdem er herausfand, dass ich aus Deutschland komme, war er begeistert. Da wolle er auch ihn, Istanbul sei ein Zwischenstopp. Europa, seine dunkelbraunen Augen glänzen, sei für ihn ein Traum. Zwei Jahre hat Tugay in Italien Ingenieurswissenschaft studiert. Er spricht fließend Englisch und Italienisch, jetzt wolle er unbedingt nach Deutschland. Zur Not auch als Asylsuchender. „Deutschland ist das beste Land der Welt.“
Warum man der deutschen Kanzlerin so dankbar sei, dass Kinder ihren Namen tragen müssen, fragte ich den 26-Jährigen gar nicht mehr. Nach seinem Outing als Merkel-Fan stoppte die Fähre. Tugay stieg aus, vielleicht treffe ich ihn irgendwann in Deutschland wieder.

Die Menschen im Ausland kennen Angela Merkel. Sie gehört auf der Welt zu den dienstältesten Staatschefs. Viel wissen sie nicht über sie. Schon weil sie eine Frau ist, fällt sie auf den sortierten Fotos mit den Mächtigen der Welt auf.

Da passt es sich gut: Deutschland zeigt sich derzeit von der sonnigen Seite. Auf der ganzen Welt sehen die Menschen auf den Titelseiten, wie Deutsche Flüchtlinge empfangen. Welch Ironie nach den innerdeutschen Auseinandersetzungen über Pegida und der innereuropäische Lahmlegung in der Griechenlandfrage. Und welch Ironie 70 Jahre nachdem der Krieg aufhörte, der Deutschland einen Stempel aufdrückte. Das Land musste bluten für das weltweite Massaker, das von ihm ausging: der Verlust der jüdischen Kultur, zerstörte Städte, die Teilung.

Und ein gesellschaftlicher Stempel, der sich tief in das Bewusstsein der Deutschen gedrückt hat. Wir sind Schuld für das größte Verbrechen, das die Menschheit je gesehen hat. Fabriken hatte man errichtet, um Menschen millionenfach zu töten. Keine individuelle über das Blut übertragene Schuld, sondern eine Schuld der deutschen Kultur und Gesellschaft, die dazu in der Lage war.

Die heutige Beliebtheit Deutschlands im Ausland ist durch dieses Bewusstsein erst entstanden – keine „Grand Nation“ mit Revolutionsmythos, kein Befreiungskrieg, keine Geschichte, auf die man stolz zurückschauen könnte. Die Selbstzweifel im Auftreten, der aus der Historie abgeleitete Grundsatz, man solle nicht zu sehr dominieren; beides steht Deutschland gut und sollte unbedingt beibehalten werden.

Karl Lagerfeld sagte in einem Interview einmal, er lebe nach einem jüdischen Sprichwort: „Kein Kredit auf die Vergangenheit“. Deutschland ist heute ein lebenswertes Land, weil es die Vergangenheit nicht verklärt. Kein Fußball-„Schland“, kein BIP und auch keine offenen Grenzen machen Deutschland zu einem „besten Land der Welt“, wie es Tugay behauptet.
Die Distanz zum eigenen Land machte Deutschland zu dem, was es heute ist, nicht Angela Merkel. Vielleicht aber machten es diese Bedingungen erst möglich, dass es eine Politikerin wie Angela Merkel den Weg an die Staatsspitze fand.

Statt jetzt also auf einen linken Patriotismus zu setzen à la „Lasst uns unser Land nach unseren Vorstellungen gestalten“, sollte man für ein offenes Europa kämpfen. Die neue Abstimmung nach Füßen hat begonnen. Es geht nicht nur um Frieden, es geht auch um Freiheit.

Mit dem Statement „dann ist das nicht mein Land“ hat Angela Merkel deutsche Geschichte geschrieben. Bei all jenen, die nicht im Traum darauf kommen würden, die CDU zu wählen, hat Angela Merkel ordentlich Respekt gewonnen. Auf der anderen Seite muss sie hingegen Einbußen auf ihrer Beliebtheitsskala hinnehmen. Und die liberalen Linken hat sie beruhigt. Mit ihr an der Spitze wird sich das konservative Bürgertum nicht dazu hinreißen lassen, auch noch die Ängste der Menschen zu ihrem Vorteil gegen die Gerechtigkeit auszuspielen. Dabei sollte man es belassen.
Menschen wie Tugay haben eine Vorstellung von Deutschland. Dem muss man versuchen gerecht zu werden, anstatt irgendwelche Früchte zu ernten, die einen Patriotismus begründen würden. Dafür gibt es auch in Deutschland noch zu viele Baustellen.

Das beste Land der Welt gibt es noch nicht. Das braucht auch es nicht. Die beste Welt der Welt ist das Ziel.

Timo Lehmann ist ein 23-jähriger Student der Politikwissenschaft und freier Gelegenheitsjournalist. Derzeitig studiert und lebt er in Istanbul.


Foto von max schrader photografie