Bundestag: Im Petitionsausschuss bringen Vera Lengsfeld und Henryk M. Broder ihre migrationskritische „Erklärung 2018“ ein. Ein Protokoll über parlamentarische Gepflogenheiten. Ein Beitrag von Timo Lehmann
Im Petitionsausschuss herrscht meistens Recht und Ordnung. Heute nicht. Es ist 13.02 Uhr im Raum E.400 am Reichstagsufer, Gebäude PLH, Deutscher Bundestag. Es tagt: der Petitionsausschuss. Hier dürfen einfache Bürger ihre Anliegen der Politik kundtun. Eine große an holzgetäfelten Tischen sitzende Runde, etwa 25 Abgeordnete aller im Bundestag vertretenden Parteien sind anwesend. Wandschließende Fenster mit Blick auf die Spree. Oben auf einem Balkon im runden Raum dürfen Besucher und Journalisten hinab auf die Demokratie schauen. Eine arabische Reisegruppe hat Platz genommen.
Chef im Laden: Marian Wendt, 33 Jahre, CDU, gerahmte Brille, grauer Anzug. Wendt ist ein anständiger Sachse, er kennt die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages und die will er als Vorsitzender des Ausschusses akribisch befolgen. Er macht künstliche Pausen beim Sprechen, damit auch ja jeder ihm folgen kann. „Ich rufe den Tagesordnungspunkt Zwei auf. Hierzu darf ich begrüßen: die Petentin Frau Vera Lengsfeld.“ Pause. „Sowie ihren Beistand Herr Henryk Broder.“
Zwei einfache Bürger bringen heute ihre Petition ein, die da heißt: „Erklärung 2018“. Es geht um die Flüchtlingspolitik der Regierung, ihrer Auffassung nach eine Verfehlung. Unterschrieben haben die Publizisten Thilo Sarrazin, Eva Hermann, Uwe Tellkamp, Hunderte Konservative bis stramm Rechte aus Wissenschaft und Kultur. Heute werden sie alle vertreten von Lengsfeld, Ex-DDR-Bürgerrechtlerin, frühere CDU-Abgeordnete – und Broder, Journalist, wortreicher Haudegen, Provokateur, Jude mit polnischem Migrationshintergrund. „Diese Sitzung dient vor allem der Wissensbildung und der vertieften Fragestellung der Abgeordneten“, erklärt Wendt die Spielregeln der folgenden Stunde, in der das Parlament Fragen an die Petenten stellen kann.
Lengsfeld erhält das Wort. „Wir fordern mit unserer Petition den sofortigen Stopp illegaler Migration nach Deutschland“. Sie liest ein Papier ab. Im Hintergrund hört man die Stimme einer Dolmetscherin, die für die arabische Besuchergruppe simultan übersetzt. „Es wäre schön, wenn sie aufhören zu reden“, sagt Lengsfeld. Die Übersetzerin blickt kurz auf, denkt nicht dran – übersetzt auch das. Kichern auf dem Balkon.
Luftholen muss Lengsfeld und fährt fort, was im Herbst 2015 geschah und beruft sich auf den WELT-Journalisten Robin Alexander.: „Wie wir wissen, wurde die Grenze nicht wieder geschlossen, weil sich das Kanzleramt vor unguten Bildern fürchtete.“ Broder putzt derweil seine Brille. Sein Tuch will er danach falten: am besten vier Mal, kriegt er nicht hin. Egal, seine Brille ist jetzt klar – er hat den Durchblick.
Eine Abgeordnete der Linken reibt ihren Zeigefinger an der Nasenspitze. Lengsfeld: „Kritiker des Regierungskurs werden unter einen rechten Generalverdacht gestellt.“ Ein Abgeordneter der FDP muss gähnen.
„Jetzt bist du dran“, sagt Lengsfeld zu Broder. Der rückt seine frischgeputzte Brille zurecht. „Ich verwende die verbliebene Zeit ganz kurz“, sagt er. „Wir fühlen uns wie auf der Titanic, wir können den Eisberg sehen, aber erreichen den Kapitän nicht, der die Katastrophe verhindern könnte“, sagt Broder, knallgelbes Polo-Shirt. „Worauf ich Sie hinweisen möchte“, sagt er. „Ganz kurz aber“, wendet Wendt ein.
„Bitte?“, fragt Broder.
„Ihre Zeit ist schon abgelaufen.“
„Geben Sie mir noch eine halbe Minute wegen meines Migrationshintergrunds?“, fragt Broder.
„Ich kann den Petenten nur fünf Minuten geben. Egal, ob Migrationshintergrund oder nich‘.“
„Wir können ja abstimmen, ob ich weiterreden darf“, fragt Broder.
„Nein, das können wir nicht“, sagt Wendt und dreht sich ein wenig mit seinem Stuhl zu Broder: „Wir sind hier für Ordnung und Steuerung.“
Jetzt ist ein CDU-Abgeordneter dran: „Ich kann viele ihrer Ängste und Sorgen nachvollziehen.“ Die besorgten Bürger Broder und Lengsfeld machen ein verwundertes Gesicht. In dieser Hinsicht habe man drei schwierige Jahre hinter sich, gibt der Abgeordnete zu. „Wir haben die Lage nicht immer vollständig im Griff gehabt.“ Sein Sitznachbar gießt sich eine Tasse Kaffee ein, die etwas überschwappt. Die Zahl der Ankommenden sei zurückgegangen, sagt der Abgeordnete, und das sei das Ergebnis politischen Handelns.
Jetzt ist nicht ganz klar, wer reden darf. Lengsfeld ergreift das Wort. Ein Sitzungsfehler, wie sich später herausstellt. Sie will noch Broder das Wort geben. „So, damit ist ihre Redezeit beendet“, sagt Wendt. „Kriege ich wieder keine Redezeit?“, fragt Broder zornig. Wendt bleibt hart.
Eine linke Abgeordnete darf jetzt fragen, aber sie fragt nicht: „Wir haben uns entschlossen, keine Fragen zu stellen.“ Jetzt aber Broder: „Das ist ein wirklich demokratisches Prozedere!“ Wendt: „Herr Broder, hier erteile“, Pause, „ich das Wort. Und nicht Sie. N’ bisschen Sachlichkeit und Ordnung.“
Broder seufzt, ein paar Fragen später bekommt er doch das Wort: „Ich bewundere ihre Realitätsverweigerung“, poltert er. „Keine Beleidigen“, ruft einer rein. Sehr selbstbewusst seien die Petenten, sagt ein Abgeordneter. Broder: „Der Vorwurf des Selbstbewusstseins ist einmalig. Sie wollen doch hier selbstbewusste Bürger haben“, Und: „Wir können leider nicht alles erklären, um den Blödsinn auszugleichen, den Sie hier täglich verbreiten.“
„Herr Broder, keine Beleidigung“, sagt der Chef Wendt. Er wurde beleidigt, verteidigt sich Broder. – „Neeein, Herr Broder“, Pause, „keiner hat Sie beleidigt“, sagt Wendt.
„Zum Schluss noch mal eine Bemerkung“, sagt Broder und schaut zur Linken-Abgeordneten. Wendt: „Bitte keine Bemerkung.“
Broder sagt schnell: „Na gut, dann nur die Bemerkung: Ich führe keine Debatte mit der SED.“ Schock bei den Linken-Abgeordneten, die ihre Köpfe schütteln.
„Nein, Herr, Broder“, sagt Wendt. „Wir versuchen hier die Sachfrage nüchtern zu erklären.“ 14 Uhr, Wendt beendet die Sitzung. Ordnung wieder hergestellt.
Zum Autor:
Timo Lehmann, geboren 1991 in Goslar, arbeitet als Journalist in Berlin und Hamburg. Studium der Politikwissenschaft in Halle (Saale) mit längeren Aufenthalten in Istanbul, Paris und New York City. Beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Politikbetrieb in Berlin, aber auch mit dem internationalen Geschehen, Wirtschaft und Kulturellem. Schrieb und schreibt für Mitteldeutsche Zeitung, taz, Süddeutsche Zeitung und SPIEGEL. Seit 2018 auf der Henri-Nannen-Journalistenschule.