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Lasst uns Europäisch sprechen!

Ungarn zieht Grenzzäune, Großbritannien droht mit dem EU-Austritt, Polen lässt die Europafahnen in öffentlichen Gebäuden beseitigen und überall steigen Europafeindliche und nationalistische Kräfte in der Wählergunst: Es sieht nicht gut aus für Europa. Oder etwa doch?

Fakt ist: Es gab kaum ein Jahr in dem Europa so präsent war wie im Jahre 2015. Ob in der Griechenlandrettung oder der Herausforderung um die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen – es waren diese innereuropäischen Themen die, die die Nachrichten wochenlang bestimmt haben wie kaum etwas anderes. Und es waren auch diese Themen, die ausgiebig, hitzig und in der breiten Öffentlichkeit diskutiert worden. Beim Bäcker, beim Friseur, in der Uni oder in der Arbeit – überall hat man darüber gesprochen. Es zeigt sich: Die Herausforderungen aus dem Jahr 2015 führten zu etwas, was unter der Regierung Merkel seit 2005 sukzessive abgeschafft worden ist.2015 war das Jahr der „Neuen Politisierung“.

Umso überraschender der Umstand, dass sie ihr Revival durch Europa feiern konnte. Das mag vielen Menschen nicht bewusst sein, aber Europa ist interdependenter geworden. Dass Menschen vor dem Terror des Daesh flüchten müssen, das hat plötzlich binnen Wochen spürbare Auswirkungen auf das Leben der Menschen in den Ländern & in den Kommunen.

Eine Revitalisierungskur der Demokratie, die gerade durch das „Abmerkeln“ der Kanzlerin in die Jahre gekommen schien. Doch ganz so einfach ist die Sache mit Europa und der Demokratie dann doch nicht, gibt es doch in europäischen Staaten rechtsnationalistische, rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien, die aktuell in der Wählergunst steigen. Nigel Farage in Großbritannien, Marine LePen in Frankreich, Victor Orban in Ungarn, Hans-Christian Strache in Österreich oder Frauke Petry in Deutschland – Sie alle können nur Bestand haben, weil es Europa gibt. Ein absurder Umstand, wie ich finde.

In ihrem Feldzug gegen Europa streuen sie Gerüchte, sähen Neid und schüren Ängste. Damit sprechen sie die Gefühle von ohnehin schon europaskeptischen Menschen an, die sich in ihrer Existenz bedroht fühlen. Wie genau dieser Mechanismus funktioniert zeigte sich bis zuletzt in der politischen Hetze der AfD gegenüber Flüchtlinge. Gezielt bereiten sie den Nährboden derer, deren moralische Hemmschwelle durch eine vermeintliche politische Akzeptanz gen Null strebt.

Wir müssen uns vor Augen führen, dass diese Strömungen keinerlei Anspruch auf politische Gestaltung haben. Es geht ihnen um das Dagegen sein und um das Aufdecken von vermeintlichen Skandalen, um das Zerstören von Strukturen. Sie fahren die Politik des lauten Neins und bedienen sich dabei der Gefühle einfacher Bürgerinnen und Bürgern.

Die Europapolitik hingegen war zumeist leise, kaum wahrnehmbar, weit weg und sprach weitaus weniger Gefühle an. Das muss sich ändern. Will Europa sich gegen seine Gegner behaupten, muss es aber Vernunft und Emotion in Einklang bringen und seinen Bürgerinnen und Bürgern ein Versprechen geben – ja, Visionen entwickeln.

Deutschland und Visionen: Wer an den erst kürzlich verstorbenen Altkanzler Helmut Schmidt denkt, der einst sagte, dass zum Arzt gehen solle, wer Visionen hat, oder an Bundeskanzlerin Angela Merkel, deren Politikstil sich durch vermeintliche Alternativlosigkeiten auszeichnet, versteht schnell woher der aktuelle Zustand der Europäischen Union rührt.

Es war die Politik des „weiter so“ und der Ziellosigkeit, die es den Rechtsnationalisten in den europäischen Staaten so einfach gemacht hat, die europäischen Herausforderungen, die landläufig auch als „Krisen“ bezeichnet worden sind, für sich zu benutzen.

Um sie aber zu entwaffnen brauchen wir Antworten, die die Europäisierung fördern und der Renationalisierung eine klare Absage erteilen.

Europa wird erwachsen, steckt aber gerade in der Pubertät. Aber auch diese Pickel werden vergehen.

Also: Lasst uns Europäisch sprechen!

Foto von Giuseppe Milo (www.pixael.com)