Am 26.10.2017 fand an der Justus-Liebig-Universität in Gießen das Podium „Jamaika-Kater – Nachlese zur Bundestagswahl“ statt. Der Präsident der JLU Prof. Dr. Joybrato Mukherjee eröffnete die, von mehr als 200 Teilnehmer*innen besuchte, Veranstaltung mit einem Grußwort; Prof. Dr. Simone Abendschön vom Institut für Politikwissenschaft übernahm die Moderation.
Auf dem Podium diskutierte ich neben vier Expert*innen und dem Publikum. Die Expert*innen waren die Wahlforscherin Prof. Dr. Sigrid Roßteutscher, Goethe-Universität Frankfurt, der Politikberater Matthias Hartl, pollytix strategic research GmbH Berlin, die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Dorothée de Nève, JLU Gießen, sowie die Journalistin Maria Fiedler, Berlin.
Es war eine spannende & interessante Gesprächsrunde mit guten Fragen aus dem Publikum. Interessante Erkenntnisse brachten alle Teilnehmer*innen; beispielsweise Sigrid Roßteutscher, von der Goethe-Universität Frankfurt. Sie war mit dem Ergebnis der Bundestagswahl mit Blick auf die Wahlbeteiligung alles andere als zufrieden, denn über 80 % der Nichtwähler*innen aus 2013 blieben auch 2017 noch Nichtwähler*innen. Auch thematisiert Roßteutscher die soziale Ungleichheit und den Zusammenhang zur Wahlbeteiligung. „Sag mir wo du wohnst und ich sage dir, ob du wählst“ sagte sie jüngst dem Bayrischen Rundfunk.
Extreme soziale Ungleichheit bei WählerInen und NichtwählerInnen ist auch bei dieser #BTW17 zu verzeichnen (Sigrid Roßteutscher) pic.twitter.com/tUzsdiDIQy
— ZMI (@ZMI_JLU) 26. Oktober 2017
Auf eine Frage aus dem Auditorium hinsichtlich Partizipationsmöglichkeiten, stellte Dorothée de Nève klar, dass Soziale Medien keine Abkündigungsplattformen von Parteien sein dürfen, sondern Möglichkeiten zur digitalen Partizipation bieten müssen. Der Wunsch nach Beteiligung dürfe zudem nicht als Protest wahrgenommen oder abgetan werden.
2013 altbackener Umgang mit sozialen Medien, jetzt strategisches Nutzen und anderer Umgang mit Inhalt, so @DorotheedeNeve @jlugiessen
— ZMI (@ZMI_JLU) 26. Oktober 2017
Ich gab zu bedenken, dass ein gemeinsames Projekt einer möglichen Jamaika-Regierung die konkrete Ausgestaltung der Digitalisierung sein könne. Eine Ausgestaltung, die über technische Aspekte hinaus gehen muss. Das Spannungsfeld, das in der Debatte um soziale Medien herrscht ist das zwischen Freiheit (Grüne, FDP) und Sicherheit (CDU/CSU). Gleichzeitig gab ich zu bedenken, dass es ein Konzept braucht, um Soziale Medien wie Facebook konkret zu erfassen. Medien wie Facebook bilden einen internationalen Raum, in dem die bloße Erfassung als innenpolitisches oder außenpolitisches Feld zu kurz greift. Die Dimensionen der Digitalisierung müssen von der Politik, der Politikwissenschaft und der Soziologie durchdacht werden.
Digitalisierung ist das nächste große Thema. Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit „freies Netz ohne Sicherheitsstaat“ @StefanKrabbes
— ZMI (@ZMI_JLU) 26. Oktober 2017
Die Tagesspiegel-Journalistin Maria Fiedler prognostizierte, dass der Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag die Streitkultur verändern wird. Schon im Wahlkampf haben die AfD Grenzüberschreitungen genutzt. Für die Partei war „jede Publicity gute Publicity“. Von einer möglichen Jamaika-Koalition verspricht sich Fiedler vitalisierende Wirkung für die Opposition, die nach Jahren der Großen Koalition nun wieder größer ist und für mehr Polarisierung sorgen kann.
Jamaika-Bündnis heißt starke Opposition.Chance sich mit Befürchtungen der Menschen in Diskussion auseinanderzusetzen @maria_fiedler #jamaika
— ZMI (@ZMI_JLU) 26. Oktober 2017
Der Politikberater Matthias Hartl stellte klar, dass die Mehrheit der Deutschen für ein weltoffenes Deutschland stehe und, dass Weltoffenheit gegenüber Tradition ein neues Cleavage bildet. Für die Grünen in einer Jamaika-Koalition sieht er Spaltungspotential, wenn sie es nicht schaffen ihre Rolle in einer möglichen Regierungskoalition zu definieren: Wechsel ins konservative Lager oder Korrektiv als linker Flügel?
Spannend ist die Rolle der Grünen bei der Bildung von Jamaika – Korrektiv als linker Flügel? so @mtthiashartl #jamaika-kater
— ZMI (@ZMI_JLU) 26. Oktober 2017
Es wurden viele Punkt angesprochen. Was die Koalitionsverhandlungen noch bringen werden, wird sich zeigen. Klar ist, dass das Regieren in Zukunft nicht einfacher wird. Ein Blick in die Länderkammer versinnbildlicht die aktuelle Situation unseres vielseitigen Landes: In 16 Bundesländern regieren 13 unterschiedliche Regierungskoalitionen. Wenn es auf Bundesebene nun zu einer Vierer-Koalition kommt, wäre dies die logische Fortführung der Entwicklung in den Ländern und bildete in Zukunft nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel.
Das bedeutete, dass Politik noch mehr abgestimmt werden und mehr Feintuning zwischen den Parteien stattfinden muss. Das birgt allerdings die Gefahr, dass der Eindruck entsteht, dass politische Entscheidungen im Hinterzimmer getroffen werden.
Vor diesem Hintergrund sind die Anforderungen an den 19. Deutschen Bundestag klar: Es braucht die effizientere Nutzung der bestehenden Möglichkeiten unseres Parlamentes und eine Änderung der aktuellen Praxis. Der Bundestag ist ein Rede- und Arbeitsparlament. Hierin liegen die Stärken, die die Demokraten nutzen müssen.
Was etwa CDU, SPD, Grüne und Linke von AfD und FDP lernen können: Die Reden der AfD (in etlichen Landtagen) oder der FDP (im Landtag von Nordrhein-Westfalen) waren selten Reden für das Parlament, sondern oft Reden fürs Social Media. Die Sprache hierbei meist so, dass Bürger*innen, die nicht im politischen Dunstkreis unterwegs sind, sie auch verstehen.
Erster Auftrag an die Fraktionen im Bundestag: Nutzt das Plenum für Reden, die die Menschen auch verstehen und führt die Fachdebatten wo sie hingehören: In den Ausschüssen. Der zweite Auftrag geht damit einher: Öffnet die Ausschüsse für die Öffentlichkeit! Da es Menschen gibt, die an der konkreten Fachdebatte interessiert sind, müssen diese auch das Recht haben, dieser beiwohnen zu dürfen.
Es steht unserer Demokratie gut zu Gesicht sich nicht einzuigeln, sondern Transparenz und Partizipation walten zu lassen. Dorothée de Nève brachte es auf den Punkt: „Man muss politische Partizipation ernst nehmen und darf sie nicht als Protest abtun“.