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Interview mit Bodo Ramelow: „Die Lautesten sind nicht die Mehrheit“

Interview Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow spricht über seine westdeutsche Vergangenheit, die ostdeutsche Gegenwart und gesamtdeutsche Herausforderungen

Dieses Interview erschien am 26.08.2020 auf freitag.de

Stefan Krabbes: Herr Ramelow, vor 30 Jahren sind Sie nach Thüringen gekommen. Nehmen Sie sich als ostdeutsch wahr?

Bodo Ramelow: Ich bin Thüringer. Aber ich habe eine Biografie, die eingeostdeutscht ist. Nicht meine persönliche, sondern die meines Vaters. Er wurde in Salzwedel geboren, und dass es Verwandte im Osten gibt, war mein ganzes Leben lang ein Tabu in unserer Familie. Darüber ist nicht geredet worden. Mitte der 1980er Jahre haben wir angefangen, unsere Halbgeschwister zu suchen. Meine Mutter war darüber nicht sehr amüsiert. Als sie aber verstarb, haben wir Geschwister – von uns aus – wieder angefangen zu suchen. Darüber habe ich einen Kontakt in die Altmark bekommen und den einen Bruder kennengelernt. Den anderen nicht. Den habe ich dann erst in der Silvesternacht 1989 kennengelernt. Der war bei der Volkspolizei. Er sagte: „Einen Halbbruder im Westen, das ist ED(e)K(a) – Ende der Karriere.“ Es war spannend, nochmal einen ganz anderen Zugang zu haben.

Aber es gab auch witzige Situationen. Als ich zu einem Termin hier in Erfurt war, wurde ich mit Fragen konfrontiert, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, und mit Begrifflichkeiten, die ich mir nicht erklären konnte. Zum Beispiel BGL (Betriebsgewerkschaftsleitung).

„Die BGL ist weggelaufen. Was sollen wir nun tun?“ Da war ich völlig ratlos, was eine BGL sein soll. Und ich konnte mir auch nicht erklären, warum die weggelaufen ist und schon gar nicht, warum ich darauf jetzt etwas antworten sollte. Da kam der Hinweis: „Na aber, du bist doch aus dem Westen. Du musst das doch wissen“. Da sagte ich: „Ich weiß doch noch nicht mal, was eine BGL ist. Wie soll ich denn darauf eine Antwort finden? Erklärt mir das doch.“

So kam es, dass ich dann immer wieder hinterfragt habe: Was ist eigentlich gemeint? Und bald merkte ich: Wir reden mit der gleichen Sprache und den gleichen Ausdrücken, meinen aber sehr unterschiedliche Dinge. Das ist das eigentlich Spannende, das mich zu jemandem gemacht hat, der oft als Ostdeutscher bezeichnet wird – oder als Ossi. Aber in Wirklichkeit ist es so, dass ich einfach immer versucht habe zu verstehen: Über was reden wir? Was denken und fühlen die Menschen hier?

Beispiel Bischofferode. Hier ahnt man, mit welcher Bitternis viele Menschen die Transformation erlebt haben. Bischofferode ist ein Synonym für das, was heute noch als Trauma wahrgenommen wird. Es gab sehr viele Entwicklungen, die zu großem Leid geführt haben: Angst, Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Abwanderungsdruck – und das war natürlich für die Region und die Menschen, die hier leben, extrem schwierig.

Sie sagten, Sie sind immer noch beim Versuch des Verstehens. Wo würden Sie sagen, dass Sie „den Osten“ noch nicht verstanden haben?

Es gibt den Osten nicht zu verstehen. Eine Sozialisation in der DDR ist eine völlig andere als in der Bundesrepublik. Ich maße mir auch nicht an, mich ossifizieren zu wollen. Ich achte auch darauf, dass ich niemals von „Wir im Osten“ rede oder: „Dafür sind wir nicht auf die Straße gegangen“. Diesen Satz habe ich mal von Herrn Höcke gehört, und das hat mich fast umgehauen, und ich dachte mir: Eigentlich müsste der ganze Platz dastehen und buhen. Wenn er eins niemals war, dann auf der Straße im Osten in der Wendezeit. Er hat nie aushalten müssen, was Menschen ausgehalten haben, die sich aufgemacht haben, sich ihre Freiräume endlich zu erkämpfen. Er hat nie erfahren, was es bedeutet hat, in Leipzig auf dem Ring zu sein, aus der Kirche herauszugehen und auf die Straße zu treten. Ich habe größten Respekt vor den Menschen, die das gemacht haben. Aber ich habe unter solchen Bedingungen nicht leben müssen.

Ich habe es nur umgekehrt erlebt, als ich 1999 für die PDS kandidiert habe. An dem Sonntag saß ich auf meiner Kirchenbank alleine. Da wollte neben mir niemand sitzen. Das war eine interessante Erfahrung und auch eine Herausforderung für mich, verstehen zu wollen, warum Menschen damit nicht klarkommen, dass ich für die PDS kandidiere. Mit vielen von ihnen hatte ich vorher ein gutes Einvernehmen. Solange ich hauptamtlicher Gewerkschafter war, hat niemanden interessiert, dass ich in der Kirche war. Und mir war klar, als Mitglied der Kirche war ich Minderheitsvertreter – wie in vielen anderen Bereichen auch. Es ist manchmal ganz spannend, aus der Minderheitsperspektive auf gesellschaftliche Entwicklungen zu blicken.

Ich höre hier schon heraus, dass es den Ostdeutschen guttun würde zu reflektieren, dass wir alle irgendwo immer eine Minderheit sind und dass es dieses „Wir Ostdeutsche“ nicht gibt. Und dass man vielleicht auch die Rolle reflektieren sollte, die man selbst innehat, …

Damit man seine Stärke findet. Ja.

um diesem seltsamen „Wir-Gefühl“ nicht anheimzufallen.

Dem falschen „Wir-Gefühl“. Wenn ein falsches Wir-Gefühl dazu führt, zu meinen, man sei immer nur Opfer, dann wird man seine Stärke nie finden. Und das ist ein Problem. Ich möchte, dass Menschen, die in den letzten 30 Jahren hier gestaltet haben, für sich auch spüren, wie stark sie sind.

Eine meiner ersten Erfahrungen. Ich habe hier taffe Frauen kennengelernt, die gekämpft haben wie Löwinnen. Da sind Männer vom Hof gegangen und haben das Weite gesucht. Ich habe Ehen zerbrechen sehen, weil Männer mit der neuen Situation nicht klarkamen und Frauen auf einmal eine Rolle gefunden haben, die sie sich – wenn man sie theoretisch gefragt hätte – vielleicht gar nicht zugetraut hätten. Auf einmal waren sie als Betriebsratsvorsitzende zuständig für tausende Menschen und haben für ihre Belegschaft gekämpft, und zwar mit Leidenschaft und ohne sich einen persönlichen Vorteil davon auszurechnen. Das waren Dinge, die ich faszinierend fand.

Deswegen sage ich: Es ist gut, wenn Ostdeutsche sehen, was sie eigentlich in die Einheit mit einbringen und auch mehr mit den Dingen argumentieren, die hier positiv laufen. Eine bessere Kinderbetreuung, eine andere Form von Umgang mit Schulbildung, eine bessere Form der Vorstellungen von Gesundheitsvorsorge im ländlichen Raum.

Da gibt es Lebenserfahrungen, die ja alle erprobt sind. Wenn ich hier in Thüringen von „Schwester Agnes“ rede, nicken 80 Prozent. Die, die nicht nicken, sind Westdeutsche, weil sie nicht wissen, wovon ich rede. Wenn ich in Westdeutschland von „Schwester Agnes“ reden würde, würden mich 100 Prozent anschauen, als wäre ich irre.

Aber ich sage, die Gemeindeschwester, um die es geht, wäre ein echter Vorteil. Eine Gemeindeschwester, die medizinische Vorsorge und Arbeit leisten darf – so wie eine Krankenschwester im Krankenhaus es auch darf. Wir haben das jetzt wieder eingeführt und das heißt bei uns jetzt VERA, damit es auch ja nicht nach DDR riecht.

Für mich klingt das, was sie sagen, sehr vertraut. Ich selbst wurde erst 1987 geboren und bin in einem kleinen Dorf groß geworden. „Schwester Agnes“ habe ich erst kennengelernt als beim Festumzug anlässlich eines Dorfjubiläums eine Dorfbewohnerin im Krankenschwesteraufzug und einer Schwalbe offenbar „Schwester Agnes“ verkörperte. Das musste ich mir dann aber auch erstmal von den Älteren im Dorf erklären lassen.

Ich habe aus Ihren Worten entnommen, dass Ostdeutsche auch eine gewisse Erwartungshaltung gegenüber dem Staat haben. Vielleicht eine höhere als das in Westedeutschland der Fall ist. Wahrscheinlich auch daraus resultierend, dass der politische Demokratisierungsprozess in der ausgehenden DDR mit der Übernahme der westdeutschen Demokratiemechanismen ein Stück weit beendet worden ist – etwa in Form der Runden Tische oder der Montagsdemonstrationen. Die fanden ja faktisch mit dem Beitritt der Ostländer zur Bundesrepublik ihr Ende. Meine Frage daher: Wäre es nicht genau jetzt – 30 Jahre nach der Wiedervereinigung – an der Zeit, ostdeutsche Erwartungshaltungen und Politiken auch für die gesamte Republik nochmal zu diskutieren, wie etwa mit Blick auf die KITA-Betreuung oder die angesprochene landärztliche Versorgung? Muss der Westen nicht eigentlich ostdeutscher werden?

Ich korrigiere Sie nur ungern, aber in Thüringen heißt es Kindergarten. Friedrich Fröbel hat den ersten Kindergarten der Welt hier in Thüringen entwickelt, und deswegen sind wir stolz auf diesen Begriff.

Aber Sie haben recht. Kinderbetreuung ist das Schlüsselthema. Und an dem Beispiel, Bildung und Betreuung beitragsfrei zu machen, wird es deutlich: Wer so eine gute und stabile Kinderbetreuung hat wie die Ostdeutschen, kann sich gar nicht vorstellen, als welche Utopie das in Westdeutschland wahrgenommen wird. Und da merkt man, wie groß die Unterschiede sind. Darüber müssen wir reden, aber gesamtdeutsch.

Außerdem gibt es ja noch ein paar ökonomische Probleme – nämlich die verlängerte Werkbank. Dass die ganzen Produkte, die wir hier produzieren, in der Regel von Menschen produziert werden, die durchschnittlich weniger Lohn bekommen als der vergleichbare Arbeitnehmer in Westdeutschland, und dass die Konzernzentrale in der Regel in Westdeutschland ist und die Steuern wie Gewerbe- und Betriebssteuern im Westen gezahlt werden, nimmt man in der gesamtdeutschen Betrachtung nicht wahr.

Deswegen wünsche ich mir ein stärkeres Lautwerden aus dem Osten, um mit Stolz zu sagen: Das ist der Teil, den wir Deutschland bringen. Nämlich eine Debatte über eine bessere Betreuung, die Frage, wie wir Wertschöpfungsketten in die Verteilung der kommunalen Steuerkraft einbeziehen und so weiter. Da würde ich mir mehr Mut, Kraft und Souveränität wünschen und nicht diese Vorstellung, DER Staat soll etwas für uns richten, und wenn DER Staat überwiegend westdeutsch tickt, dann ist man enttäuscht und geht am Montag in Dresden mit den Mahnwichteln spazieren – oder man macht eine Lichterkette gegen Flüchtlinge.

Und ja, es gibt eine Erwartungshaltung, die ist tief eingeübt: „Die da oben und wir hier unten“. Da muss ich einfach sagen, das ist für mich ein Unterschied, weil auf die da oben habe ich in Westdeutschland nie gewartet. Sondern ich habe mir immer gesagt: „Drum bleib im Land und wehre dich täglich“. Denn wenn du was verändern willst, musst du Mitstreiter finden, die mit dir gemeinsam was verändern. Aber ich konnte in diesem Land, in dem ich groß geworden bin, eben auch protestieren und mich danebenbenehmen. Und das ist auch das, was meine Partei deutlicher verstehen muss, dass es Themen gab, die in der DDR niemals hätten angesprochen werden dürfen. Ein großer Fehler in der Logik der Vorgängerpartei, also der Partei aus der wir erwachsen sind.

Um das klar zu sagen: Ich bin in der Friedensbewegung sozialisiert. Ich konnte mir erlauben, vor der amerikanischen Kaserne zu sitzen und zu demonstrieren. In der DDR hätte niemand vor der sowjetischen Kaserne sitzen können. Der hätte dann gesessen, aber nicht vor der Kaserne.

Deswegen sage ich, mit dem Selbstverständnis, mit dem wir in Wackersdorf gegen Atomkraft oder in der Friedensbewegung in Bonn im Hofgarten gegen die Cruise-Missiles demonstriert haben – mit dem gleichen Selbstverständnis habe ich auch demonstriert gegen die sowjetischen Raketen. Das war dann immer die Unterscheidung zwischen den Dogmatikern und den offenen Linken, die sagten: Wir wollen gar keine Raketen – weder die einen noch die anderen. Es gab dann immer einen Streit.

Ich erinnere mich noch gut daran: 1983, Bonner Hofgarten. Da war Heino Falcke, der Altprobst von Erfurt. Der saß zwischen Willy Brandt und Petra Kelly, und der hatte das Signet „Schwerter zu Pflugscharen“. Das fand ich faszinierend.

Das hätte 1983 die SED in Erfurt aber gar nicht gut gefunden. Und deswegen hat die Stasi Heino Falcke und seine Familie auch derart drangsaliert und ausgespäht, weil er als eine gefährliche Person galt. Und wenn ich mir anschaue, was in dieser Zeit in der evangelischen Kirche in Erfurt – zumindest im Augustinerkloster – für Themen debattiert worden sind über soziale Gerechtigkeit, über den Umgang mit dem Globus, über die Frage Umwelt, da hätten unsere Fridays for Future ihre Freude dran. Denn dann merken sie auch, dass es gar nicht so neu ist, was sie thematisieren.

Es ist in der Tat so. Blickt man auf das, was Bärbel Bohley und beispielsweise die Grüne Partei im Osten forderten, dann sieht man, dass es auch um eine neue Verfassung für die DDR ging und noch gar nicht um die Wiedervereinigung. Und viele Sachen, die damals schon gesagt und gefordert worden sind, hätte ich auch damals wohl unterschreiben können, da sie sehr ähnlich dem klangen, was Sie gerade ausführten – gerade die ökologische Ausrichtung. Das liest sich auch heute noch wie ein früher Green New Deal zu Zeiten vor der Wiedervereinigung.

Und da ist für mich einer der Fehler passiert. Die Deutsche Einheit wurde nicht in einer Volksabstimmung herbeigeführt – im Sinne einer Abstimmung über eine gemeinsame Verfassung. Die Ostdeutschen waren da weiter. Die hatten ihren Runden Tisch der Verfassung. Sie haben dazu Anträge geschrieben, und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland war dazu eindeutig! An dem Tag, an dem sich Deutschland friedlich vereinigt, ist eine neue Verfassung zu erarbeiten und zu erlassen. Und dazu ist eine Volksabstimmung zu machen. Und diese Volksabstimmung hätte man gut durchführen können mit einer vorläufigen Verfassung, in die man beitritt, und einer Verfassungskonferenz, die man eingesetzt hätte,mit dem Auftrag, eine neue gesamtdeutsche Verfassung zu erarbeiten – damit Ostdeutsche sich mit einbringen und Westdeutsche auch mal über sich nachdenken. Doch so war es tatsächlich nur ein Anschluss, bei dem man sehr schnell die Spielregeln änderte, die es in der DDR gab und die neu erkämpft waren – z.B. den Runden Tisch. Die sind ja einfach ersetzt worden durch westdeutsche Regeln. Und diese wiederum waren westdeutsche Regeln, die wir uns erkämpft haben, aber diese Regeln kann man nicht einfach übertragen, da sie mit einer Gesellschaft nicht kompatibel sind, die ganz anders strukturiert ist. Das Grundgesetz ist eine hervorragende Verfassung, das möchte ich betonen. Aber ich finde, dass das partizipative Element, welches für den Fall einer Wiedervereinigung bewusst in ihm angelegt war, stärker hätte zur Geltung kommen können.

In der DDR hätte ich nicht leben können. Wer eine derartige Staatsgläubigkeit als zentrales politisches Programm hat, der hinterlässt natürlich Spuren bei den Menschen. Gerade wenn das Ganze noch mit dem Machtapparat der Staatssicherheit einhergeht, der zahlreiche Familien zerstört und langzyklische Wurzeln hinterlassen hat. Und niemand darf glauben, dass die nachgeborenen Generationen damit nicht konfrontiert seien. Das ist ein schwerer Irrtum.

Ein Beispiel: Die CDU hat in den ersten Jahren versucht, die Jugendweihe aus den Schulen rauszuschmeißen, und eigentlich wollte sie, dass das Thema Jugendweihe beendet wird. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Heute gehen Menschen zur Jugendweihe, die sind fast in der dritten Generation. Fast alle aus den Klassen gehen zur Jugendweihe, und die Westdeutschen kommen zu uns in den Kaisersaal, sitzen oben auf den Tribünen und Rängen und denken, was ist denn das für ein seltsamer Tag? Den können die sich gar nicht erklären. Dann übersetzen sie sich das und sagen, das ist Konfirmation oder Kommunion andersrum. Hat aber mit Staatstreue gar nichts mehr zu tun. Es ist einfach nur eine tiefsitzende Routine, die weitergegeben wird. Und dasselbe ist es mit der Sprache.

Inspektion oder Durchsicht? Wo bringen Sie ihr Auto hin?

Durchsicht.

Genau, aber das würde ich als Westdeutscher nie sagen. Ich bringe es zur Inspektion. Führerschein oder Fahrerlaubnis? Plastetüte oder Plastikbeutel?

Ich habe das mal mit einem Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung gemacht. Dann schrieb der am nächsten Tag „Wie der ostdeutsche Bodo Ramelow uns sagte“.

Ich musste jemandem neulich die Bedeutung des Wortes „Nu“ erklären. Nu.

Nu.

Nu.

Nu. Eine schöne Geschichte. Nu.

Noch einmal zur Erwartungshaltung, Herr Ramelow. Sie sagten, der omnipräsente Staat DDR hat sich natürlich auch in den Köpfen der Menschen niedergelassen. Weil für Ostdeutsche mit DDR-Vergangenheit dieses Thema hier völlig anders funktioniert. Sie, Herr Ramelow, sind im Westen im Individualismus groß geworden, in dessen Fokus das Persönliche wachsen und Glücklich werden stand, wobei der Staat eine befähigende Rolle einnahm. Als Zentralstaat hatte die DDR natürlich ganz andere Strukturen und setzte auf den Kollektivismus. Nun lässt sich nicht ganz von der Hand weisen, dass die Erwartungshaltung an den Staat doch noch recht groß ist.

Ja.

Doch zwischen dem, was Sie sagten, zwischen den Mahnwichteln und völliger Selbstverwirklichung, gibt es ja noch einige Grautöne. Die Frage ist für mich: Wie kann man mit dieser Erwartungshaltung umgehen? Ein pauschales – zugegeben sehr vereinfachtes – Beispiel: Als die Finanzkrise die Welt erwischte, Sie selbst waren damals noch Bundestagsabgeordneter, kam quasi über Nacht ein Text, über den es am nächsten Tag abzustimmen galt und den ein Großteil der Mitglieder des Bundestages nicht einmal gelesen haben dürften.

Ich habe das damals noch live erlebt.

Das muss 2008 gewesen sein als der damalige Finanzminister Peer Steinbrück noch zum Beginn der Finanzkrise durch alle Fraktionen ging, um für den Kurs der Bundesregierung zu werben.

Genau. In einer Woche sind damals 100 Milliarden Euro bewegt worden. Das war eine Summe, die sich bis dahin keiner vorstellen konnte.

Und dieses Momentum übersetzt auf einen Spielplatz zum Beispiel in Gotha – warum es hier so viel länger dauert als bei der Bankenrettung. Wie will man das erklären?

Jetzt argumentieren Sie politisch und Sie nähern sich mit einem politischen Argument. Aber das Problem ist die Frage. Das gibt es ganz häufig, aber es wird nicht allgemein wahrgenommen, wie viele Menschen sich für den Spielplatz in Gotha wirklich engagieren. Und sie selbst spüren es für sich noch gar nicht, dass sie es sind, die das Ganze gerade in Gang setzen.

D’accord, Herr Ramelow. Aber wenn kommunal der Eindruck entsteht, dass die Handlungsfähigkeit „des Staates“ bei der Umsetzung des Spielplatzes träge wirkt, doch zeitgleich über Nacht Banken gerettet werden können. Kann es sein, dass staatliches Handeln bei großen Playern anders aussieht als bei den kleinen?

Ihre Frage beinhaltet jetzt freilich eine etwas populistische Volte. So etwas gehört auch zweifelsohne zur Politik dazu. Das ist aber nicht meine Lebenswelt. Meine Lebenswelt ist, dass wir viel Geld ausgeben und viele Kommunen das Geld nicht einmal abrufen, weil in der Zwischenzeit der Staat die öffentliche Bauverwaltung weggespart hat. Weil seit 40 Jahren in Deutschland ein neoliberaler Umbau läuft. Weil ein massiver Sozialabbau stattgefunden hat und die Maxime „Privat vor Staat“ wie eine Galionsfigur vorne hergetragen worden ist. Das führt dazu, dass tatsächlich die Planungen eines Kinderspielplatzes mittlerweile derart kompliziert und komplex sind, und bestimmte Formen von Nachbarschafts- und Bürgerbeteiligung die Sache noch komplizierter machen. Da sagt der DDR-Bürger: Das war bei uns anders. Das haben wir im Subbotnik gemacht. Ehrlicherweise gibt es das auf dem Dorf im Westen aber auch.

Die Frage des gemeinschaftlichen Engagements: Ich glaube, dass man mehr erreichen kann, wenn man zusammen eine gemeinschaftliche Aktion in Gang setzt. Ich habe jetzt eine Sommertour gemacht. Ich war nur in Dörfern unterwegs und habe Kleinstdörfer erlebt, die hervorragend funktionieren. Die leiden nicht darunter, dass ihnen die Verwaltung irgendwas nicht besonders schnell liefert, sondern die sagen: Wir haben uns als Nächstes dies vorgenommen und würden gerne wissen, wann der Staat mal die Straße macht. Das würde uns schon genügen, aber in der Zwischenzeit kämpfen wir darum, dass der Wasseranschluss da ist und dass der Stromanschluss da ist. Und den Kinderspielplatz, den bauen wir uns selbst.

Also, ich erlebe das mehrschichtiger. Doch die Wahrnehmung ist die, da wird berichtet: Für die Banken ist Geld da, für Schlecker war keins da. Das nimmt natürlich eine Schlecker-Frau auch wahr, denn sie landet in der Arbeitslosigkeit.

Schlecker war im Übrigen das erste Beispiel der großen gesamtdeutschen Arbeitslosigkeit, vorher betraf das nur HO und Konsum und nur Ostdeutschland. Also darum muss man immer schauen, wann man welche Lernerfahrung macht.

Corona zum Beispiel erleben wir im Moment gesamtdeutsch. Die Frage ist, wie wir zusammen Lösungsansätze entwickeln. Ich glaube, dass es im Moment auch lohnt, Themen wieder besser aufzusetzen, aber so, dass man fragt, was heißt das ethisch für uns?

Natürlich können wir über Tönnies schimpfen. Wir können über die Person schimpfen. Wir können über die völlig inakzeptablen Werkverträge schimpfen und vor allen Dingen diese auch beenden. Aber wir können auch mal über den Fleischpreis reden und über die Frage, ob es nicht besser wäre, wenn unser Bauer seine Produkte hier herstellt und in der Region vermarkten könnte. Das wiederum setzt aber voraus, dass wir wieder über neue Kreisläufe nachdenken. Ein nicht ganz unbedeutender, auf der ganzen Welt agierender Konzern namens Amazon erforscht in Seattle, wie ein voll automatisch funktionierender 24-Stunden-Laden geht – voll digitalisiert. In Altengottern haben wir ihn – ohne Amazon. Von lokalen Entwicklern und Leuten gemacht. Und wir überlegen jetzt mit denen zusammen, wie wir das multiplizieren.

Ich mache jetzt Dorfbürgermeister darauf aufmerksam: Fahrt nach Großengottern. Und ich frage die Menschen konkret: Wo seht ihr etwas, wo andere was tun, um sich von diesem Beispiel anstecken zu lassen. Und ich will ein irres Beispiel nennen, weil es mich jedes Mal umhaut. Kennen Sie die Weltgemeinde Stelzen?

Leider nein.

50 Einwohner. Die Weltgemeinde Stelzen liegt neben der noch viel bedeutenderen Gemeinde Reuth, die allerdings auf der sächsischen Seite liegt. Und in Stelzen hat ein Mensch, der dort geboren ist und zufälligerweise im Gewandhausorchester ist, vor 30 Jahren angefangen, Konzerte zu geben. Daraus entstanden sind die Stelzenfestspiele bei Reuth. Und jedes Mal sind 5000 Menschen da und begeistert. In einer Dorfscheune, die man zwischenzeitlich gebaut hat, an der Stelle wo früher die sowjetischen Abhörgeräte waren. Und in diesem Sperrgebiet sind von Oma bis Enkel alle unterwegs, wenn die Stelzenfestspiele laufen. Und alle Karten sind innerhalb von einer Stunde weg, sobald die nächste Saison eröffnet ist. Es ist eine komplette Initiative ohne Hilfe von außen und ohne Fördermittel. Die haben einfach angefangen und gesagt: Wir sind praktisch am Ende der Welt, aber wir tun mal so, als würden wir das nicht zur Kenntnis nehmen, denn wir waren so lange im Sperrgebiet. Wir sind so selbstbewusst und maßen uns an, das Wort „Bayreuth“ in „bei Reuth“ umzudeuten. Und dann fährt der Bauer mit dem Traktor durch die Festspielhalle, und an der Decke hängt ein Melk-Karussell und macht Musik. Sowas muss man mal gesehen haben. Und von diesen Beispielen haben wir eine ganze Menge. Und es lohnt sich, diese Menschen zu besuchen, weil das einen ganz anderen Blick auf den Osten vermittelt.

Das ist ja auch das was #DerAndereOsten zeigen soll. Ich würde gerne nochmal einen Schritt zurück, auf Punkte die Sie schon angerissen haben: Digitalisierung, Globalisierung bzw. Relokalisierung, die ja unlängst auch von der Europäischen Union fokussiert wurde, und damit verbunden die ökologische Transformation. Das bedeutet für den Osten: Ausstieg aus der Kohle – auch wenn das Thüringen eher weniger betrifft.

Seitdem ich Ministerpräsident bin, haben wir sofort alle Atomkraftwerke und alle Kohlekraftwerke stillgelegt. Aber das war einfach: Wir hatten ja auch keine.

Löblich, löblich, Herr Ramelow. Sie hatten in ähnlicher Sache ja auch einen Flächentausch Thüringens mit Sachsen-Anhalt.

Da ging es um Braunkohleresttagebaue. Wir hatten ja tatsächlich in Schmölln eine Brikettfabrik und noch einiges an Braunkohleabbau. Aber übrig geblieben ist das Teer-Werk Rositz. Das ist sozusagen eine Ewigkeitshinterlassenschaft. Tatsächlich habe ich immer gesagt, es ist sogar unsere Chance, dass wir die Umstellung zur regenerativen Energie viel besser nutzen können. Dazu bräuchten wir allerdings eine andere Architektur der Energieproduktion in Deutschland. Wir könnten zum Beispiel einen Großteil der Windenergie selbst herstellen. Wir müssen sie nicht permanent durch Kupferplatten durch die Welt schieben. Die Begrifflichkeiten regional, dezentral und regenerativ sind sozusagen mein Kompass, in dem ich mich bewege.

Und das ist dann auch ein Teil Ihrer Antwort auf die Freisetzung von Arbeitskräften nach dem Kohleausstieg?

Ich verstehe die Kollegen in Brandenburg und in Sachsen, die sich Sorgen machen. Denn was völlig übersehen wird: Diese Braunkohlebetriebe sind nicht nur Arbeitgeber, sondern auch die letzten großen verbliebenen Steuerzahler. Der Verlust dieser Firmen ist ein Verlust von einem gewissen Kreislauf. Damit besteht die Gefahr, dass der Kohleausstieg, für den ich sehr bin – und ich bin auch für eine Beschleunigung –, am Ende dazu führt, dass in diesen Regionen der Lausitz kein aktiver Arbeitsmarkt mehr existiert und keine Firmen mehr da sind, die mit dieser Potenz Steuerkraft abbilden. Das ist ein Problem, und es ist nicht zu ersetzen mit einmaligen Fördermitteln. Das setzt voraus, dass man eigentlich eine innovative Initiative starten müsste. Das heißt zum Beispiel, das Thema Wasserstoff-Technologie als großes Entwicklungsthema zu setzen.

Wenn ich mich recht erinnere, dann zahlt ja beispielsweise die MIBRAG durch ihre Steuergestaltungsmodelle nicht sonderlich viele Steuern.

Ja, mittlerweile. Doch am Anfang war das anders.

Genau, aber das würde Ihr Argument dann ja entkräften.

Vattenfall hat ja seinen Teil einfach abgegeben, und wir haben jetzt noch das Wasserkraftthema, was von Vattenfall übriggeblieben ist. Deswegen würde ich das auch gerne kommunalisieren. Insoweit geht es mir nicht darum, Vattenfall zu verteidigen. Das wäre ein falscher Zungenschlag. Mir geht es darum zu sagen: Wir brauchen einen Aufbau und eine Förderung von Strukturen, in denen wir mit neuer Technologie auch eine Chance haben. Und deswegen war es bitter, als die Bundesregierung entschieden hat, dass das Batterieforschungszentrum nach Nordrhein-Westfalen geht. Wir haben zusammen mit Sachsen ein Gebot hinterlegt. Wir haben eine der zentralen Forschungseinrichtungen. Wir haben einmal Jena Batteries und die Hochschule in Jena. Wir haben die Keramikforschung am Hermsdorfer Kreuz IKTS. Hier ist gerade die neue Keramikbatterie entwickelt worden.

Die chinesische Firma CATL lässt sich in Erfurt nieder, weil sie aus chinesischer Sicht die Forschungskapazität in Thüringen sieht. Die Bundesregierung sieht die Forschungskapazitäten in Ostdeutschland nicht und legt sie nach Westdeutschland. Das sind die eigentlich schlimmen Fehlentscheidungen. Die, eingebettet in das, was da jetzt mit dem Kohleausstieg passiert, für uns schon wieder ein Schlag ins Gesicht ist.

Müsste der Osten denn mehr auf Digitalisierung setzen?

Ja, klar. Werfen wir einen Blick auf die baltischen Staaten: Selbst in großen Waldgebieten haben die eine flächendeckende Abdeckung hinbekommen – das hat man ja hier nicht mal in bewohnten Gebieten. Weil Deutschland sich schon wieder selbst im Weg steht mit der Überbürokratisierung, so dass viel von dem Geld, das für den Breitbandausbau gedacht ist – sehr viel davon – fast drei Jahre lang liegengeblieben ist.

Nun haben wir ja über den Kohleausstieg und die Digitalisierung gesprochen. Es steht ja im Raum, dass beide Entwicklungen zur Freisetzung von Arbeitskräften führen könnten. Dabei ist die Digitalisierung ja ein Megatrend, der sich in jeden Lebensbereich zieht. Wenn wir über Digitalisierung sprechen, dann müssen wir ja auch über Scheinselbstständigkeiten sprechen, über unsoziale Geschäftspraktiken und so weiter. Auf der anderen Seite sprechen wir beim Kohleausstieg ja über die Arbeitskraftfreisetzung. Bräuchte die Politik eine ganz andere Antwort auf diese Entwicklungen statt starr auf die Fixierung auf Folgearbeitsplätze zu blicken? Wie sollte man darauf reagieren?

Die Frage ist, ob man den Job versteht unter dem Begriff der Industriegesellschaft der 1980er Jahre. Das ist nicht mein Verständnis. Deswegen ist Digitalisierung für mich nicht automatisch mit „bad jobs“ verbunden. Das ist kein Automatismus. Es wird an vielen Stellen so genutzt, aber das liegt auch daran, dass „bad jobs“ zulässig sind. Man könnte sie auch unzulässig machen. Das heißt also, wir könnten einen gesellschaftlichen Umbauprozess machen, der sich ganz anders aufstellt.

Zuerst einmal brauchen wir eine Sozialversicherungsstruktur, in die alle einzahlen. Eine Bürgerversicherung. Heute habe ich gehört: 70 Prozent unserer Thüringer Bevölkerung würden auch mit einem bedingungslosen Grundeinkommen weiter arbeiten gehen. Ich bin nicht der Vertreter des bedingungslosen Grundeinkommens. Ich bin der Vertreter der Bürgerversicherung, in die jeder einzahlt, damit eine Risikoabpufferung für jeden da ist. Und zwar aus jeder Einkommensart und jeder Berufsgruppe – völlig egal ob Industriearbeiter oder Freiberufler. So eine Diskussion über eine moderne Bürgerversicherung wäre der Einstieg in eine andere Form einer modernen Gesellschaft.

Und eine zweite Komponente: Für jedes Kind soll es eine Kindergrundsicherung geben, die unabhängig vom Einkommen gezahlt wird. Hier bin ich für ein Grundeinkommen, das für jedes Kind gleich ist, und zwar so, dass nicht der, der ein hohes Einkommen hat, durch den Steuerfreibetrag mehr fürs Kind hat als der, der ein niedriges Einkommen hat.

Also stellt sich doch für unsere gesamte Republik – und der Kohleausstieg betrifft ja Deutschland in Ost wie in West, ebenso wie die Digitalisierung – dann eine erneuerte soziale Frage, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung.

Da sind wir mittendrin. Und es wäre auch am besten, wir würden sie nicht ostdeutsch und nicht westdeutsch, sondern gesamtdeutsch beantworten. Der Kohleausstieg ist in Nordrhein-Westfalen ebenso massiv wie in der Lausitz oder in Sachsen-Anhalt. Und auch die Digitalisierung betrifft uns überall und flächendeckend.

Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, aber die Haussteuerung, die Urlaubsplanung oder die Steuererklärung, die man über eine App machen kann – das alles hat uns verändert.

Die Erfindung des Smartphones ist so revolutionär, wie es die mobilen Lettern beim Buchdruck waren. Luther hat erst auf Grundlage dieser mobilen Letter die Reformation gemacht, als er anfing, Texte zu schreiben, die auf einer Umdruckseite vervielfältigt werden konnten. Da ging es noch gar nicht groß um Bücher, sondern nur um Propaganda. Und Luther hat mit diesem Werkzeug hart gearbeitet. In der Frage war er wirklich revolutionär.

Stichwort Propaganda und Fake News: Vor der gleichen Frage stehen wir ja heute auch wieder. Welchen Informationen können wir trauen und welchen nicht, wer ist Erzeuger des Inhalts?

Ja, die bewegliche Letter ist heute das Smartphone. Erst neulich, als ich ein bisschen kritisch mit den Menschen auf einer Demo in Berlin umgegangen bin, hat mir das sehr viele Kommentare eingebracht. Wenn mir dann jemand schreibt „Das ist alles gelogen. Infiziert ist nicht gleich krank“ und das natürlich alles in Großbuchstaben, dann schreibe ich darunter: Wer hat denn das behauptet? „Ich habe es gelesen. War im Internet.“ Ok. Gut.

Da kann man schöne Geschichten einbauen und erzählen, die mit der Realität zwar nichts mehr zu tun haben, aber sich gut anhören. Da wird richtig Infokrieg geführt.

Ich habe das im Januar 2015 selbst erlebt, als ich bei einer PEGIDA-Kundgebung war, um zu beobachten und zu verstehen, was da los ist. Es war ein sehr seltsames Konstrukt, und man hat mitbekommen, dass sich etwas im Internet zusammenbraute, was ganz unangenehme Ausmaße annahm.

Das veranlasst mich dann aber, meine Erfahrungen zu machen, indem ich ab und zu einfach quer durch die ganze Stadt zu Fuß gehe. Ich habe manchmal einfach den Wunsch, in Gesichter zu schauen, die wirklich einfach nur freundlich lächeln und man sich einfach nur freundlich zunickt. Da muss gar nichts gesagt werden.

Man muss irgendwie für sich klar haben, dass nicht die Lautesten die Mehrheit sind. Sie sind einfach nur laut. Aber sie verkörpern bei weitem nicht den ganzen Osten.

Ich erinnere mich an die Menschen, die vor 30 Jahren, hier im Osten, auf die Straße gegangen sind. Zu dieser Zeit habe ich hier schon gelebt, und ich bin hingegangen, um zu erfahren, was ihr Anliegen ist. Die einen Demonstranten haben zum Teil sehr emotional für Freiheit demonstriert, dafür, nicht mehr bevormundet zu werden und keine Angst mehr haben zu müssen vor einem Staatsapparat, der ihnen das Recht verweigert, den Weg zu gehen, den sie gehen wollen.

Und andere sind dann auf die Straße gegangen mit Schildern, auf denen stand: „Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr“. Dann dachte ich mir, dass das der Beginn von ernstgenommenem Materialismus ist. Die haben Karl Marx falsch verstanden. Da geht es nur um Golf GTI, Marlboro und Video.

Klar, diese Sorte gab es ja auch.

Auch. Es war für die Läden, für die ich zuständig war, eine angenehme Begleiterscheinung, denn es war erstmal Konsumismus und nicht Kommunismus.

Herr Ramelow, ich habe noch eine letzte Frage zur Rolle Ostdeutschlands in der europäischen Integration. Deutschland war ja das einzige Land in Europa, das in Ost- und Westblock geteilt war. Und in manchen Punkten wirkt es so, als lägen die Ostdeutschen sehr nahe bei den Mindsets unserer polnischen, tschechischen und ungarischen Freunde. Man sollte die Inhalte nicht teilen, aber könnte dieses Grundverstehen – ich betone bewusst Verstehen und nicht Verständnis – eine Rolle in der europäischen Integration spielen?

Es ist schon so, dass wir das Scharnier sind zwischen West- und Mittel-Ost-Europa. Wir sind ja das Partnerland von Malopolska, also Krakau. Und ich finde es spannend, dass wir mit Krakau und der Region Krakau einen guten Kontakt haben und viele Dörfer auch miteinander Dorfpatenschaften haben.

Wie das in Tschechien weitergeht mit Herrn Babis, ist mir im Moment nicht klar. Ich erlebe viele Menschen, die gegen ihn auf die Straße gehen. Als Großunternehmer hat er ja auch sehr viele Firmen hier in Deutschland, zum Beispiel in Sachsen-Anhalt in Piesteritz. Das gehört ja zu seinem Firmenverbund. Ich habe sehr nett und sehr lange bei einem Besuch in Prag mit Herrn Babis gesprochen, da er auch sehr gut Deutsch spricht. Ich fand ihn spannend, aber ich sehe auch, wie viele Verwerfungen es im Moment gibt.

Insoweit bemühe ich mich, die Kontakte zu halten, und ich bemühe mich auch ein Stück weit, die ungarische Sicht zu thematisieren. So habe ich zum Beispiel auf einer Veranstaltung in Brüssel teilgenommen, bei der wir aus ungarischer Perspektive gesprochen haben. Da denken viele Vertreter aus Ungarn, dass man eben immer nur gerügt wird. Aber es sind natürlich vor allem die Visegrád-Staaten, die sich zur Zeit absondern.

Es ist so: Wenn Ostdeutschland sich von Westdeutschland nicht verstanden fühlt, dann darf man sich nicht wundern, wenn die Visegrád-Staaten sich nicht von Westeuropa verstanden fühlen.

Da haben wir noch viel Übersetzungsarbeit zu leisten.

Herr Ramelow, vielen Dank!

Gerne.