Zum Inhalt springen

Für eine Renaissance der „Bonner Republik“

Gastbeitrag von Uwe Schummer, Mitglied des Deutschen Bundestags.

Sie ist Geschichte, die Mauer, die Europa und die Welt Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg trennte. Unter ihr klafft ein Graben zwischen West und Ost. Nach der staatlichen Einheit, die Strukturen zusammenführte, ist die innere Einheit, der gemeinsame demokratische Konsens nicht wirklich erreicht. Das Erstarken völkisch-nationalistischer Kräfte und ein Grundrauschen gegen die klassischen Parteien, Kirchen und Gewerkschaften sind gesamtdeutsch vorhanden. Durch Enttäuschungen und gebrochene Biographien im Zuge der friedlichen Revolution im Osten Deutschlands finden sie besondere Nahrung. In der alten Bundesrepublik sehnen sich viele wieder in die Zeit zurück, in der die Welt überschaubar und in Gut und Böse geordnet war.

Deutschland ist vereint, die Parteienlandschaft ist in Bewegung. Parteipolitische Bindungen lassen nach. Die Welt wird komplizierter, da finden einfache Parolen wieder Gehör. Nachdem sich die Deutschen über Jahrzehnte mit den Antipoden des Kalten Krieges identifizierten, dem Antikapitalismus in der ehemaligen DDR und dem Antikommunismus in der Bundesrepublik, geht es um eine positive Vision, wie unsere Gesellschaft in den nächsten Dekaden aussehen soll. Mit dem Sozialpakt wurde die deutsche Einheit begleitet. Der globale soziale Wandel zwingt in einer Agenda 2030 zur Klärung über das, was bleiben soll und mit welchen Strukturen wir die Zukunft unseres Landes im Herzen Europas weiter gestalten. Dabei sehe ich mit großer Sorge, dass tragende Kräfte der „Bonner Republik“ in der Berliner Politik erodieren. Sie brauchen eine Renaissance. 

Volkspartei — Spiegelbild der Gesellschaft

Es war die Zersplitterung der Parteienlandschaft, die das schnelle Ende der Weimarer Republik bewirkte. Neben Massenarbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Depression, mangelnder demokratischer Kultur nagte sie wie ein Krebsgeschwür an der Republik. Sie, die Demokratie, war nicht gewollt sondern das Ergebnis einer Niederlage, die mit dem Versailler Vertrag besiegelt wurde. Schnell bildeten sich Richtungs-, Protest- und Klientelparteien. Stabilisierend wirkten die zunächst dominierenden Weimarer Parteien, wie die Sozialdemokratie und das Zentrum. Der Reichstag selbst erschien dem „deutschen Michel“, vom autoritären Pomp der wilhelminischen Zeit geprägt, als Ort der Konfusion. Kampfbegriffe wie „Quasselbude“ und „Reichsaffentheater“ trugen zur Diffamierung bei. Gruppenegoismus im politischen Häuser- und Straßenkampf führten zur Erosion des Gemeinwohls.

Die Weimarer Republik wurde sturmreif agitiert. Bald waren zu vielen Menschen die eigenen Interessen wichtiger als die Würde des Nachbarn, der einen jüdischen Glauben hatte. Die widerstrebenden Konflikte lösen und den Konsens zu suchen; dies gelang in Weimar nicht mehr. Im Widerstand zum Nationalsozialismus entwickelte sich aus dieser Erfahrung das Konzept der Union als Volkspartei, die christlich inspirierte Menschen zusammenführt. Ihr Anspruch: Alle Gruppen der Bevölkerung auf dem Boden des christlichen Menschenbildes zu sammeln, den natürlichen Interessenkampf zu kultivieren um ihn produktiv für das Gemeinwohl zu nutzen. Als Spiegel der Gesellschaft wirken Vereinigungen wie die CDA-Sozialausschüsse, Mittelstand, Frauen-Union, Junge Union und Senioren Union, der Evangelische Arbeitskreis und die Gruppe der Vertriebenen. Konflikt und Konsens, Streit und am Ende das gemeinsame Ergebnis sollen stellvertretend für die Gesellschaft organisiert werden. Als Voraussetzung die identitätsstiftende Wirkung der Ökumene. Vereinigungen schaffen Zielgruppenräume auf dem gemeinsamen Werteboden unter dem Dach der Union. Streit und Kompromiss als Lebenselixier freiheitlicher Ordnung. Nicht das Schwert, sondern das Wort wird zum „Kampfmittel“ für die Macht auf Zeit. Quer- und Nachdenker, Träumer und „Spinner“ halten unsere Gesellschaft in Bewegung. Autokraten lieben die Erstarrung, sie wollen Macht ohne Gegenmacht, Regierung ohne Opposition, Meinung ohne Freiheit. Menschen sind aber unterschiedlich, sie brauchen Entfaltung, Vielfalt und ein kultiviertes Miteinander.

Einheitsgewerkschaft — ungleicher Bruder der Union

Neben dem Modell der Volkspartei entwickelte sich im Widerstand zum Nationalsozialismus die Idee der demokratischen Einheitsgewerkschaft. Macht- und Mutlosigkeit hießen die Kinder der Zersplitterung in Richtungsgewerkschaften. Um die drohenden Stürme der Zeit zu überstehen, starteten sie einen letzten Versuch, die Demokratie noch zu retten. Ein Generalstreik war nicht mehr möglich. Sozialdemokraten, Christlich-Soziale und sozial-liberale Gewerkschafter erarbeiteten deshalb im April 1933 einen Vertrag, der die Einheitsgewerkschaft als Zusammenschluss der demokratischen Arbeiterbewegung besiegeln sollte. Darin vereinbarten die Unterzeichner:

  • „Die Gewerkschaften sind die berufenen Vereinigungen zur Vertretung der sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter und Angestellten,
  • Das Ziel ihrer Arbeit ist die Förderung eines gesunden Staates und Volkes als Voraussetzung der Sicherung der sittlichen und sozialen sowie kulturellen, staatlichen und wirtschaftlichen Lebensrechte des deutschen Arbeiters,
  • Die religiösen Grundkräfte sind in ihrer staats- und gesellschaftsaufbauenden Bedeutung zu achten und anzuerkennen,
  • Die Gewerkschaften haben parteipolitisch völlig ungebunden zu sein.“

Ein Sturm der SA auf die Gewerkschaftsbüros verhinderte am 2. Mai 1933 das Inkrafttreten dieses Vertrages. Führende Gewerkschafter fanden sich später in den Konzentrationslagern des Nazi-Regimes wieder. Der Totalitarismus streifte mit der Deutschen Arbeitsfront sein braunes Hemd über die Beschäftigten. Trotzdem: In den Gefängnissen der Geheimen Staatspolizei und den Konzentrationslagern blieb die Idee der Einheitsgewerkschaft lebendig. Neben der Interessenvertretung für die Arbeitnehmerschaft steht sie in letzter Konsequenz auch für Demokratie und Menschenrechte.

Soziale Marktwirtschaft – der Mensch hat Vorrang

Eine Balkanisierung der Parteienlandschaft, ohnmächtige Richtungsgewerkschaften, die wertneutrale Verfassung und eine schwach ausgeprägte demokratische Kultur führten zum Ende der Weimarer Demokratie. Mit der wirtschaftlichen Krise kam auch der Staat in die Krise. Das „Volk ohne Raum“ stürzte sich auf das „Volk ohne Staat“, die jüdischen Mitbürger. Mehr als sechs Millionen Arbeitslose als Reserveheer gegen die noch Beschäftigten führten zum Sozialkampf. Menschenrechte wurden völkisch relativiert. Mit der Machtübergabe durch konservative Kräfte 1933 an Adolf Hitler wurde die Demokratie wieder abgewickelt. Mit den Braunhemden prägte fortan der Biologismus von „Blut und Boden“ eine neue totalitäre Herrschaftsform.

Die provisorische Leitung der „Bekennenden Kirche“ gehört zum christlichen Widerstand. 1938 bildete sich das „Freiburger Konzil Evangelischer Wissenschaftler“. Der Auftrag: Die Entwicklung einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die sich mit dem christlichen Menschenbild verbindet. Die Wissenschaftler trafen sich geheim und in unregelmäßigen Abständen bis sie ihre Beratungsergebnisse 1943 in einer Denkschrift zusammenfassten. Maßgeblichen Anteil hatten die Ökonomen Walter Eucken und Alfred Müller-Armack. Titel der Schrift: „Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbestimmung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit.“ Ihre Botschaft: „Wirtschaftspolitik ist nur ein – allerdings höchst wichtiger, ja unentbehrlicher — Teil der Sozialpolitik… Sozialpolitik darf, um ihren Namen zu rechtfertigen, sich nicht auf zusammenhanglose Fürsorgemaßnahmen beschränken — sie muss die gesamte Societas festigen und ständig im Einklang mit den Grundsätzen der Gesamtwirtschaftsordnung stehen.“

Wo Ideologen polarisieren und selektieren, setzen die Architekten der Sozialen Marktwirtschaft Brückenpfeiler. Sie bauen Brücken zwischen Kapital und Arbeit, Markt und Sozialordnung, Arm und Reich, Eigenwohl und Gemeinwohl. Aus der evangelischen Sozialethik heraus entwickelten die ordoliberalen Vordenker eines sozial gebändigten Kapitalismus ihr gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Konzept. Der Staat mit klaren Aufgaben: Hüter des Gemeinwohls, Anwalt der Schwachen und Schiedsrichter im Wettbewerb. Kein Staat der passiv dem Marktgeschehen zuschaut und die Versehrten der Wirtschaftslokomotive im Lazarettwagen pflegt; ein Staat, der Regeln setzt und dafür sorgt, dass sie eingehalten werden. Wirtschaftliche Macht, so die Botschaft von Weimar, bleibt nicht im Stande der Unschuld. Sie entwickelt sich unweigerlich zu politischer Macht. Spenden von Industriellen wie Thyssen und Krupp an die NSDAP zeigten 1933 das Interesse der Industrie für einen autoritären Staat, selbst wenn dieser in Stiefeln daherkommt.

Als mittlerer Weg zwischen Laissez-faire-Liberalismus und zentrale Planwirtschaft entwickelte sich die Soziale Marktwirtschaft zum Kontrastprogramm gegen vermeintlich „unüberwindbare Klassen- oder Rassengegensätze.“ Die Arbeit, so die christliche Soziallehre trennt nicht, sie eint die Menschen. Im arbeitsteiligen Prozess ist jeder auf jeden angewiesen. Dazu gehört die Solidarität zwischen Ungleichen. Der arbeitende und der unternehmerische Mensch können künstlich aufgebaute Konflikte im gegenseitigen Einvernehmen lösen. Beide sind an nachhaltiger Wertschöpfung interessiert. Der spätere Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und sein Staatssekretär Alfred Müller-Armack führten die Soziale Marktwirtschaft, nach einem knappen Wahlsieg der Union 1949, in der Bundesrepublik ein. Sie wurde Grundlage des Wirtschaftswunders in der Bonner Republik und sie ist der eigentliche Gewinner des „Kalten Krieges,“ der Ost-West-Auseinandersetzung bis zur friedlichen Revolution in der ehemaligen DDR in 1989.

Der liberalistische Gedanke, dass sich die Wirtschaft wie ein Phönix aus der Asche des Sozialen befreien müsse, fand keinen Rückhalt; die durchgeplante Funktionärswirtschaft ebenso wenig. Wer die Produktion der Güter und die Bereitstellung von Dienstleistungen auf Jahre plant, der muss auch die Menschen und ihre Bedürfnisse planen und lenken. Wer dies will, der missachtet den freien Willen und die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen. Bei Befragungen über Investitionsentscheidungen in Deutschland sind bis heute Qualifikation der Beschäftigten, politische und soziale Stabilität führende Kriterien. Selbst Arbeitskämpfe unterliegen einem ordnenden Regelwerk und dazwischen herrscht die in der Betriebsverfassung verankerte „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ in den Unternehmen. Wichtig für den Erfolg des Westens über den sowjetisch geprägten Osten war die starke Identifikation der Deutschen mit ihrer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Nicht der blanke US-Kapitalismus wirkte anziehend wie ein Magnetfeld sondern die Soziale Marktwirtschaft.

Christlich orientierte Volkspartei, demokratische Einheitsgewerkschaft und die Soziale Marktwirtschaft wurden im Widerstand zum Nationalsozialismus entwickelt und im zweiten Demokratieanlauf auf deutschem Boden, der „Bonner Republik“, durchgesetzt. Sie wirken bis heute. Doch ihre Wirkung lässt nach. Es bedarf einer Renaissance der Idee, dass jeder Konflikt einen Kompromiss braucht und die Einheit der demokratischen Kräfte stärker ist als der Hass. Mit starken Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und der Tarifautonomie wurden die wirtschaftlichen und sozialen Themen der Bonner Republik befriedend geregelt. Doch die Tarifautonomie bröckelt. Nur noch jeder zweite Beschäftigte profitiert von ihrer Gestaltungskraft. Mehr Tarifbindung und höhere betriebliche Mitwirkung und Mitbeteiligung können sie wieder erhöhen. Ideen, die Sozialpartnerschaft mit einer Kapitalpartnerschaft zu verbinden, zeigen den Weg für eine neue Strecke der Sozialen Marktwirtschaft. Hinzukommen Herausforderungen wie die ökologische Gestaltung in einem vereinten europäischen Haus. Meine Hoffnung ist, dass ein schwarz-grünes Bündnis in 2021 die Renaissance der Bonner Republik mit den neuen Herausforderungen in Berlin kreativ gestaltet.

Uwe Schummer ist seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages und vertritt hier den Wahlkreis Viersen, den er immer direkt gewann. Seit 2018 ist er Vorsitzender der CDU/CSU-Arbeitnehmergruppe im Deutschen Bundestag.

Foto: Daniel Rudolph