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Europa & der Islam

Nach Paris ist es nun Zeit meine Gedanken festzuhalten. Wie viele Andere habe ich einige Zeit gebraucht, um meine Gedanken zu ordnen.

Die Gefahr vor der unsere europäische Gesellschaft steht ist kurz gesagt: Die Polarisierung. Die Debattenstränge verlaufen derzeit wenig lösungsorientiert und machen sich häufig in den Unterschieden statt in den Gemeinsamkeiten fest. Verständlich, geht es doch um die innersten Überzeugungen und das Menschenbild eines jeden selbst. Die Realität aber macht deutlich: Es braucht Kompromisse, Vernunft und Augenmaß. Rechtspopulismus und rechtsnationalistischem Ungeist sei allerdings bereits an dieser Stelle eine Absage erteilt.

Die zentrale Frage, die mich aktuell umtreibt lautet: Wie schaffen wir ein Europa, das uns allen eine gute und sichere Heimat in Freiheit bietet?

Das was am Freitagabend in Paris passierte war ein Akt voller Hass und ein Angriff auf unser liberales Europa – ausgeführt von IS-Terroristen. Dieser Anschlag hat mich als Europäer schwer getroffen. Er hat mich wütend gemacht. Doch er ließ in mir auch neue Hoffnung keimen. Hoffnung darauf, dass Europa nun zusammen rückt. Das muss es auch, will es den Gefahren unserer Zeit strotzen.

Europa muss eins verstehen – vielmehr aber noch dessen nationalstaatliche Regierungen: Es darf sich nicht von totalitären und fanatischen Terroristen die Freiheit nehmen lassen. Ja, Paris hat uns alle getroffen. Doch schreckhaft über die Verschärfung etwaiger Gesetze zu reden macht uns so – wie die Terroristen uns haben wollen: zu einem ängstlichen, autoritären System, das seine Mitmenschen pauschal unter Terrorverdacht stellt. Der Norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg sprach sich nach den grauenvollen Anschlägen von Oslo und Utya im Jahre 2011 dafür aus, auf die Anschläge mit größtmöglicher Offenheit und Demokratie zu antworten. Das gilt auch heute noch – unverändert.

Nun mag man sich fragen, was soll denn diese Antwort sein. Aber wie auch in der Griechenland- oder der Flüchtlingskrise liegt die Antwort in: mehr Europa. Bei Griechenland, Portugal, Italien, Irland & Co. zeigte sich ganz klar, dass es eine einheitliche Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik braucht. In der Flüchtlingskrise stellt sich dar, dass eine europäische Zuwanderungspolitik angezeigt ist. Paris, Madrid und London verdeutlichen auf tragische Weise aber auch, dass Außenpolitik endlich europäisch werden muss.

Die Situation die wir aktuell vorfinden, lässt sich als Folge von Syrienkrieg, Arabischen Frühling und Irakkrieg zusammenfassen. In Teilen war sie absehbar. Am Syrienkrieg lässt sich sehen, dass viele unterschiedliche Interessenslagerungen eine Rolle spielen. Russland erkennt das Assad-Regime als demokratisch gewählt an, die USA bekämpfen ihn als Diktator, Europa (insofern man hier von Europa reden kann) ist sich der Sache uneins. Es ist ein heilloses Durcheinander. Kern des Problems bilden aber auch die unterschiedlichen Vorstellungen der internationalen Ordnung von Obama und Putin. Der syrische Status Quo ist letztlich auch Folge dessen.

Dass es immer wieder nur westlichen und russischen Sichtweisen gesprochen wird, hat auch viel mit dem Überleben der NATO nach dem Fall des eisernen Vorhangs zu tun. Die NATO ist ein heute nicht mehr zeitgemäßes Konstrukt, das unser freiheitliches Europa zu sehr an die Interessen der USA bindet. Dies jedoch wird der geopolitischen Lage Europas nicht im Ansatz gerecht. Die Welt befindet sich nicht mehr im Kalten Krieg und Europa ist nicht mehr zweigeteilt, wie einst Deutschland. Die noch anhaltende bzw. wieder aufkommende Hegemonie von USA und Russland ist nicht mehr zeitgemäß. Spätestens seit dem Aufstreben Chinas zu Russlands Lasten muss der USA klar sein, dass sie die EU nicht mehr auf Dauer wird vorbehaltlos an sich binden können. In Zeiten von Ukraine- oder Syrien-Konflikt wird immer klarer, dass es einen anderen Player braucht, der seine Interessen mit in die Waagschale wirft, um einen stabilen Frieden zu gerieren. Konkret bedeutet das für Syrien, dass nur zusammen mit den USA, der EU und Russland und natürlich dem Syrischen Volk eine weitestgehend friedliche Lösung gefunden werden kann.

Weder eine Europäische Außenpolitik noch eine Europäische Friedensarmee sind derzeitig greifbar. Sie würden aber perspektivisch einen wichtigen Punkt internationaler Politik ausmachen und für einen Ausgleich im internationalen Kräftesystem sorgen. Für den Moment aber ist die Syrienkrise zentral. Die USA, die EU, Russland und Syrien müssen sie gemeinsam lösen, um den Status Quo zu überwinden, der auf der einen Seite immer mehr hilflose Flüchtlinge, auf der anderen Seite aber auch terroristische Islamisten produziert.

Die zeitnahe Reaktion zur Bombardierung von IS-Stellungen in Syrien mag zwar eine menschlich aus der Wut heraus gerierte Reaktion auf die Anschläge von Paris gewesen sein, vereinfacht aber den Friedensprozess in Syrien nicht und begründet nur noch mehr Hass von potentiellen IS-Attentätern.

Die Maßgabe der Stunde lautet: Gespräche, Gespräche, Gespräche. Trotz Wut – Gespräche.

Doch wie sollte Europa jetzt mit „dem“ Islam umgehen?

Was auf keinen Fall passieren darf ist die Vermischung der Diskussionen von Terrorismus und Flüchtlingen. Flüchtlinge fliehen vor Terrorismus, um ihr Streben nach Glück fernab ihrer geliebten Heimat zu finden. Die Opfer von Krieg und Terror als Terroristen zu bezeichnen entbehrt jeglichem Humanismus, jeder Vernunft und jedem Feingefühl.

Wer den Blick genauer auf die Attentäter legt wird schnell merken, dass es sich bei ihnen um französische bzw. belgische Landsleute handelt. Zwischenzeitlich überschlugen sich die rechtspopulistischen bzw. rechtsnationalistischen Parteien und Medien, dass es über die Balkenroute nach Frankreich eingereist sei. Die französischen Behörden bestätigten jedoch, dass es sich bei einem gefundenen Flüchtlingspass eines Täters, um eine Fälschung handelt. Terroristen sind zwar krankhaft fanatisch, aber nicht gänzlich dumm. Das macht sie ja auch so gefährlich. Wer die Täter also in den Blick nimmt wird darauf stoßen, dass sie europäische Passe hatten. Es ist also neben den bereits angeführten außenpolitischen Aspekten die Frage zu beantworten, was Europa sozialpolitisch tun muss, um junge Menschen (und hier explizit jungen Menschen mit Migrationshintergrund) eine Perspektive zu bieten. Die Antworten sind schnell gefunden: frühzeitig rein ins Bildungssystem, frühzeitig rein in den Arbeitsmarkt, frühzeitig in die liberal-pluralistische Gesellschaft. Das sind alles keine unüberwindbaren Hindernisse für die europäische Politik. Und vor allen Dingen ist es auch keine Frage des Könnens, sondern des Wollens. Je schneller Integration betrieben wird, desto besser wird sie gelingen. Natürlich wird nicht jeder Flüchtling, der in unser Europa kommt der nächste Bürgermeister oder Firmenboss. Die Türen aber sollten ihm offen stehen – wie auch allen anderen Menschen Europas – es werden zu können. Europa muss für Chancengleichheit sorgen – für alle von Anfang an. Das ist die Aufgabe Europas im Großen und die Aufgabe der Kommunen im Kleinen. Das ist was die Politik tun kann, darf, soll und muss.

Gleichzeitig muss aber auch betont werden, dass den muslimischen Gemeinden in Europa eine besondere Bedeutung zukommt. Sie müssen es schaffen den Islam zu europäisieren also liberalisieren. Parallel dazu müssen sie es schaffen (ebenso wie der Staat), dass sich junge, augenscheinlich perspektivlose Jugendliche nicht dem IS preisgeben. Doch dafür muss Europa verstehen, dass es nicht DEN Islam gibt. Dass es diese Haltung gibt zeigt sich an der Erwartungshaltung vieler Deutscher nach Paris: „Na jetzt kann sich der Zentralrat doch ruhig mal von den Terroristen distanzieren“ war oft zu hören. Diese Erwartungshaltung ist unreflektiert und zeigt, dass noch einiges zu tun ist.

Es geht nicht darum, ob der Islam zu Europa gehört. (Ja, das tut er genauso wie alle anderen Religionen, Ethnien und Kulturen auch.) Es geht darum, ob die Menschen, die an den Islam glauben zu uns gehören. So lange wir sagen, dass sie nicht zu uns gehören, solange ziehen wir uns unsere Probleme heran. Je mehr eine Gesellschaft ihre „ungeliebten Kinder“ an den Rand stellt, desto mehr verliert sie sie aus dem Blick und bekommt dann zurück, was sie selbst verletzt.

Kämpfen wir also weiterhin für ein offenes, durchlässiges, liberales und europäischeres Europa.

Auch lesenswert: Christopher Johannes Hamich – Paris: Was mich beschäftigt.

Foto von pterjan